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Lesen - was heißt das?

Der Buchhandel klagt über Umsatzeinbußen und das nicht erst seit der Zeit der coronabedingten Einschränkungen unseres Lebens. Ich kann aber versichern, dass ich nicht daran schuld bin, denn ich trage weiterhin einen großen Teil meines Geldes in die Buchhandlungen.
 Ich will hier aber nicht darüber spekulieren, ob der Onlinehandel den Handel vor Ort zerstört oder ob das Internet an allem Schuld ist oder die Streamingdienste, die die Menschen vom Lesen abhalten. Mir geht es um die Frage, was wir eigentlich unter Lesen verstehen und wie sich die Vorstellung vom Lesen verändert hat.

Was bedeutet lesen?

Mit Lesen verbinden wir Gemütlichkeit und Intellekt. Bei Interviews im Netz oder Fernsehen fällt mir immer wieder auf, dass Intellektuelle, ProfessorInnen oder PsychologInnen sehr häufig vor einer großen Bücherwand sitzen, wenn sie Fragen beantworten. Auch in vielen Haushalten, vor allem der Mittelschicht, darf die Bücherwand oder zumindest ein hohes Bücherregal, nicht fehlen. Es ist somit zu einer Art Statussymbol geworden. Ob all diese Bücher wirklich gelesen wurden, wird selten jemand fragen. Das wird vorausgesetzt, denn sonst ständen sie ja nicht da. In diesem Kontext stellt das Lesen eine Art Auszeit von der Hektik des Alltags dar. Man nimmt sich Zeit für die Dinge, die einem guttun, versinkt in Geschichten über fremde Länder oder fremde Menschen und das für mindestens 300 Seiten.
Ein Film könnte das sicher auch bewirken, aber in unserer Wahrnehmung ist Lesen ein aktives Vergnügen, das bildet und den Geist formt, während Fernsehen ein passives auf der Couch rumlungern bedeutet, dass der Pöbel macht, während er ungesundes Fast Food in sich reinstopft. Damit ist das Lesen, vor allem das Lesen aus Vergnügen eine Form der Freizeitgestaltung, mit der sich der Mittelstand, das Bildungsbürgertum, nach unten abgrenzt.
Dabei gibt es noch ganz andere Formen des Lesens, die wir ständig praktizieren. Wir lesen Straßenschilder, E-Mails, Zeitungen, Beipackzettel, Gebrauchsanweisungen, SMS, Twitter-, Facebook- oder Blogeinträge.
Mir scheint also, dass nicht das Lesen an sich in Gefahr ist, sondern die bürgerliche Vorstellung von der »Kulturleistung Lesen« und natürlich die Branche des Buchhandels.

Lesen früher - Wer las und wer nicht?

Im Mittelalter konnte kaum jemand lesen. Von Karl dem Großen ist beispielsweise überliefert, dass er zwar die Bildung förderte, selbst aber nicht lesen konnte. Und damit war er sicher nicht allein, denn vor Erfindung des Buchdrucks waren Bücher wahnsinnig teuer. Sie mussten per Hand geschrieben und kopiert werden. Das geschah in den Klöstern, wo niemand sich die Mühe machte, Literatur zur Erbauung des Geistes zu erschaffen. Da wurden kirchliche Texte verfasst und kopiert, mit etwas Glück auch Texte aus der Antike. Nur Mönche und Nonnen hatten die Zeit, sich mit diesen Texten auseinanderzusetzen. Vom normalen Menschen wurde das gar nicht erwartet, auch vom Adel nicht, denn deren Aufgabe war die Verteidigung des Landes.
In den Amtsstuben wurden Bestandslisten über Land, Vieh und Bevölkerung verfasst. Die Beamten befassten sich also in erster Linie mit Lesen und Schreiben zur Verwaltung und zur Information, nicht aber zum Vergnügen.
Natürlich gab es auch eine Art Unterhaltungsliteratur, z.B. das Nibelungenlied oder die Sagen um König Artus. Aber diese Texte wurden in erster Linie erzählt und nicht gelesen. Damals spielte also das Erzählen eine viel größere Rolle, als das Lesen. Das diese Kulturleistung verloren gegangen ist, scheint aber niemanden sonderlich zu stören.
Durch die Erfindung des modernen Buchdrucks wurden Druckwerke erschwinglicher. Aber auch damals wurden nicht im großen Stile Bücher publiziert, sondern Flugblätter. Sie informierten die Menschen, was in der Welt passierte, waren also Vorläufer der Zeitungen.
Erst im 18 und frühen 19. Jahrhundert gewann der Roman an Bedeutung. Dies war bedingt durch die Aufklärung und die Industrialisierung. Die Welt veränderte sich und nun bestimmte das Bürgertum mehr und mehr die Lebensformen. Und in dieser Schicht gab es genug Leute, die die Zeit hatten, das Lesen als Kulturform zu kultivieren. Für die Menschen auf dem Land oder in den Fabriken galt das aber immer noch nicht. Der arbeitenden Bevölkerung wurde es erst möglich durch Arbeitszeitverkürzungen, ein höheres Einkommen und sinkende Buchpreise. Und das sind Entwicklungen, die erst nach dem Ersten Weltkrieg einsetzten, als die Menschen mehr Freizeit hatten, aber noch keinen Fernseher.
Ist das Lesen also wirklich in Gefahr oder verändert es sich einfach nur? Was meinen Sie?

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