Der Beginn einer langen Freundschaft

(Auch als Download)

Der Zug setzte erst am Aachener Hauptbahnhof ein, trotzdem war es mir kaum gelungen, einen Sitzplatz zu ergattern. Der Zug war gerammelt voll mit jungen Menschen, die T-Shirts mit Che Guevara Emblem trugen und heftig diskutierten. Vom anderen Ende des Waggons erklangen Songs von den Ärzten, in die immer mehr Menschen einfielen.

 

Das alles bestärkte mich in meinem Vorhaben. Ich, Camilla Catour, würde zur ersten Demonstration meines Lebens fahren. Nichts Spannendes finden Sie? Für mich war es das, denn ich stamme aus einem durch und durch unpolitischen Elternhaus. Während viele meiner Schulkameraden von ihren Eltern von Friedensdemo zu Antiatomkraftdemo und wieder zurückgeschleppt wurden, verbrachte ich meine Wochenenden in Museen oder an Badeseen.

 

Natürlich mache ich meinen Eltern keinen Vorwurf, aber mit zunehmendem Alter überkam mich das ungute Gefühl, dass das Erfolgsversprechen eines Ludwig Erhardt, Wohlstand für Alle, auf meine Generation nicht mehr zutraf. Und so entschloss ich mich, zur großen Demo nach Köln zu fahren, um gegen die geplanten Freihandelsabkommen TTIP und CETA zu protestieren.

 

Eine weitere halbe Stunde später fuhr der Zug am Kölner Hauptbahnhof ein. Hier herrscht immer großes Gedränge, aber die Menschenmassen, die jetzt Richtung Ausgang strömten, machten mir schon ein wenig Angst.

 

»Wollen die alle zur Demo?«, fragte ich eine Frau mit rotem Bürstenhaarschnitt und schwarzem Kapuzenshirt.

 

»Wohin sonst? Zum Fußball?«

 

»Fußball ist heute auch?«, fragte ich.

 

»Weiß ich doch nicht«, antwortete sie und hielt mir ein Transparent mit der Aufschrift NO TTIP unter die Nase. »Der Sport ist doch nur noch von kapitalistischen Interessen unterwandert.«

 

»Das war er schon bei den alten Griechen«, antwortete ich, um zu beweisen, dass meine Museumswochenenden nicht umsonst gewesen waren.

 

»Da entlang.« Sie griff meinen Arm und zog mich mit sich.

 

Nach wenigen hundert Metern kamen wir ans Ziel, einer großen Wiese am Rheinufer.

 

»Und jetzt?«, fragte ich meine Begleiterin.

 

»Jetzt setzen wir uns hier hin.« Sie deutete auf ein freies Plätzchen.

 

»Soll das eine Sitzblockade werden?«, fragte ich ein wenig enttäuscht.

 

»Deine erste Demo?« Meine Begleiterin setzte sich und kramte in ihrem Armeerucksack.

 

Ich setzte mich neben sie. »Ich heiße Camilla.«

 

»Tessa.« Sie holte eine Metalldose mit Rosendekor aus ihrem Rucksack, die so gar nicht zu ihren martialischen Springerstiefeln passten.

 

»Zuerst gibt es noch Kundgebungen. Die Redner erzählen uns, was wir eh schon wissen. Das alles scheiße ist und so.«

 

»Und wieso machen sie das?«, fragte sich.

 

»Warum halten Generäle vor Beginn einer Schlacht eine Rede?«, fragte sie zurück. »Das soll die Meute motivieren, sich ins Kampfgetümmel zu stürzen.«

 

Aus meinem Unterbewusstsein bahnten sich Bilder von Materialschlachten des Ersten Weltkriegs und von Armeeeinheiten, die auf Demonstranten schossen nach oben. Konnte ich noch umkehren? Andererseits konnte ich mich nicht erinnern, dass jemals eine meiner Schulfreundinnen mit einer Schussverletzung in die Schule gekommen war.

 

Tessa öffnete ihre Dose. Sie nahm Tabak, Zigarettenpapier und ein Tütchen mit getrockneten Kräutern heraus.

 

»Du willst hier einen Joint drehen?«, fragte ich.

 

»Klar.«

 

»Aber es wimmelt von Polizei.«

 

»Hier.« Sie reichte mir den Joint. »Du musst dich dringend entspannen.«

 

Ich nahm die Zigarette und tat einen tiefen Zug, der mir Tränen in die Augen trieb.

 

»Scheiße ist das scharf«, krächzte ich.

 

»Deine erste Demo, dein erster Joint.« Sie lachte. »Jungfrau bist du hoffentlich nicht mehr.«

 

»Nein, Fische«, erwiderte ich. Nach einem weiteren Zug drehte sich alles um mich herum.

 

»Gehst du oft auf Demos?«, fragte ich Tessa.

 

»Klar«, antwortete sie. »Demonstrieren ist oberste Bürgerpflicht.«

 

Ich lachte. »Du machst nicht den Eindruck, als würden Bürgerpflichten dir etwas bedeuten.«

 

»Mülltrennung bestimmt nicht. Aber wir können uns die Ausbeutung nicht länger gefallen lassen.«

 

»Mein Freund sagt, demonstrieren würde eh nichts bringen.«

 

»Was macht er denn?«, fragte sie.

 

»Er ist Anwalt für Wirtschaftsrecht.«

 

»Und damit auf der Gewinnerseite.« Sie zog am Joint. »Und du?«

 

»Sozialarbeiterin.«

 

Sie reichte mir den Joint. »Besser. Wobei diese Arbeit natürlich auch systemerhaltend wirkt.«

 

Ich nahm den Joint. »Ich arbeite in einem Altenheim.«

 

Langsam kam Bewegung in die Menschenmenge.

 

»Du auch hier altes Haus«, begrüßte ein Mann mit schwarzem Sweatshirt meine Begleiterin. »Wir planen das Übliche.«

 

»Cool«, antwortete sie. »Sag mir Bescheid.«

 

Mir schwante Übles. »Wollet ihr Stunk machen?«

 

»Wir tun nur unseren Unmut kund.«

 

Der Zug lief über die Deutzer Brücke und dann Richtung Neumarkt. Aus Lautsprecherwagen erklangen die verschiedensten Protestsongs, unterbrochen von Statements und Aufrufen, gegen das Unrecht vorzugehen. Es war wie Karneval, nur besser.

 

Die Proteste fanden zeitgleich in mehreren deutschen Städten statt und ich war teil dieser Bewegung. Das erfüllte mich mit Stolz und ich nahm mir fest vor, nun häufiger auf Demos zu gehen.

 

Vor einer Filiale der Deutschen Bank hatten sich schon einige schwarz gekleidete Menschen postiert. Tessa gesellte sich dazu. Ich wäre gern weiter gelaufen, um keinen Ärger zu riskieren. Aber genau hier kam der Zug zum Stehen.

 

Es ertönte ein schriller Pfiff und die schwarz Gekleideten holten Farbdosen aus ihren Rucksäcken, mit denen sie auf die Glasfront des Gebäudes zuliefen.

 

»Halt das.« Tessa drückte mir ihren Rucksack in die Hand und verschwand in der Menge.

 

Auf einen Pfiff begannen sie nun alle gemeinsam, die Fenster mit weißer Farbe zu besprühen. Über ein Megaphon wurden wir über die Intransparenz der Geschäftspraktiken aufgeklärt. Das Geschehen blieb nicht unbemerkt und schon bald erschienen die ersten Polizisten.

 

Was nun? Panik machte sich in mir breit, denn die Männer und Frauen in mit dunkelblauen Kampfmonturen, Schlagstock und Schild sahen nicht aus, als könnte man mit ihnen diskutieren. Unsicher drückte ich Tessas Rucksack an mich.

 

»Den nehme ich.« Eine Polizistin riss mir den Rucksack aus der Hand und sah hinein. »Sie kommt auch mit«, sagte sie zu einem Kollegen. Der packte mich sofort und drehte mir den rechten Arm auf den Rücken.

 

»Au«, schrie ich. »Ich habe doch nichts damit zu tun.«

 

»Klar«, erwiderte er. »Und die Farbdosen sind von alleine in ihren Rucksack geflogen.«

 

»Das ist nicht mein Rucksack«, erwiderte ich.

 

Er schubste mich zu einem Mannschaftswagen der Polizei, in dem schon einige der Sprayer saßen, unter anderem Tessa.

 

»Kannst du denen sagen, dass ich Nichts damit zu tun habe?«, blaffte ich sie an.

 

»Schon mal was von Sippenhaft gehört?«, antwortete eine junge Frau mit grasgrünen Haaren.

 

»Das gibt´s doch nur in totalitären Systemen«, widersprach ich.

 

»Wir sind in einem totalitären System«, erwiderte Tessa.

 

Meine Demobegeisterung bekam einen herben Dämpfer. Was mein Freund Daniel wohl dazu sagen würde?

 

Wir wurden zur Polizeidienststelle gebracht.

 

»Hinsetzen«, blaffte uns ein Polizist an.

 

Ich nahm auf einem dieser hässlichen, unbequemen Plastikstühle Platz, wie man sie nur bei Behörden findet.

 

»Du solltest nichts ohne deinen Anwalt sagen«, raunte Tessa mir zu.

 

»Anwalt?« Ich schnappte nach Luft.

 

»Keine Panik«, sagte Tessa.

 

»Versuche nicht, deine Haut auf unsere Kosten zu retten«, raunte mir ein junger Mann zu. Seine Stimme klang bedrohlich.

 

»Sie hatte nichts damit zu tun«, nahm Tessa mich in Schutz.

 

»Mitgefangen, mitgehangen«, erwiderte der junge Mann.

 

Ein etwa dreißig jähriger Mann kam auf uns zu.

 

»Das ist Mark«, erklärte Tessa. »Unser Anwalt.«

 

»Der?« Ich sah mir den Mann genauer an. Mit seinen ausgebeulten Jeans und dem Shirt von undefinierbarer Farbe ähnelte er so gar nicht meinem Freund, der immer korrekt gekleidet war mit blauem Anzug und braunen Schuhen.

 

Der Anwalt setzte sich zu uns.

 

»Wir machen es wie immer«, erklärte er. »Keiner macht eine Aussage, das ist euer gutes Recht, auch wenn ihr auf frischer Tat ertappt wurdet. Dann warten wir ab, wie sich die Gegenseite verhält.«

 

»Die zerren uns vor Gericht«, rief ich. »Und dann wird meine Chefin davon erfahren und ich finde nie mehr eine Arbeit.«

 

Wie gern hätte ich jetzt einen Zug von Tessas Joint genommen.

 

»Etwas überreizt«, kommentierte der Anwalt.

 

Ich setzte zu einer heftigen Bewegung an, aber Tessa trat mir auf den Fuß.

 

»Erste Verhaftung«, erklärte sie, während ich vor Schmerz nach Luft schnappte.

 

»Es ist ganz einfach«, erklärte mir der Anwalt. »Das war Sachbeschädigung und die wird nur auf Strafantrag des Geschädigten verfolgt. Die Deutsche Bank dürfte aber kein Interesse haben, euch zu verklagen. Erstens hält sich der Schaden in Grenzen, zweitens würde ein solcher Prozess dem ohnehin schon angeschlagenen Image der Bank nur schaden.

 

Es vergingen noch viele Stunden, bis alle Formalitäten erledigt waren und wir das Polizeirevier verlassen durften.

 

Der Anwalt behielt recht und die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren ein. Daniel habe ich nie von diesem Vorfall erzählt, denn im Gegensatz zu vielen Liebesromanen bin ich nicht der Auffassung, dass man vor seinem Partner keine Geheimnisse haben sollte.