Leseprobe

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Um drei Uhr nachmittags versammelten wir uns zur alternativen Stadtführung vor dem Elisenbrunnen, einem klassizistischen Prachtbau aus der Zeit, als Aachen noch zu den großen Kurorten Europas gehörte.
Während die feine Gesellschaft der Jane Austen Romane das Heilwasser in Bath genoss, kurten Berühmtheiten wie Casanova oder Chopin in Aachen, wenn man der Bronzetafel im Inneren des Elisenbrunnens glauben darf. Entsprechend erhaben kommt der langgezogene weiße Säulenbau daher, der nicht nur den Stolz der Vergangenheit ausstrahlt, sondern auch den modrigen Geruch nach faulen Eiern. Diesen verdanken wir den warmen, schwefelhaltigen Quellen, die unter der Stadt liegen. Das Quellwasser riecht nicht nur scheußlich, es schmeckt auch so, eignet sich aber hervorragend zur Therapie von Haut- und Gelenkerkrankungen.
Da es im Mittelalter noch keine Zentralheizungen gab, legte Karl der Große seine kalten Füße gerne in die warmen Quellen, um sich nach einem anstrengenden Tag voll Regierungsgeschäften und Sachsenschlächterei zu erholen. Seine letzten Tage soll er fast komplett im warmen Wasser verbracht haben.
Das war aber nicht Thema der alternativen Stadtführung, da Alternative sich selten mit der Schönheit der Architektur, sondern mehr mit der Hässlichkeit der kapitalistischen Gesellschaft beschäftigen.
Außer Liz, Tessa, Fabian und mir hatten sich zehn weitere Interessierte zur alternativen Stadtführung eingefunden, von denen die Hälfte Bekannte der Führerin zu sein schienen. Es waren junge Menschen in Klamotten, die Reinhard May in einem seiner Lieder als Nonkonformistenuniform bezeichnet hatte: derbe Boots, T-Shirts mit Kampflogos und wahlweise ausrangierte Armeehosen oder abgewetzte Jeans. Schwarz dominierte die Szene.
Mit meinem langen türkisen Rock und dem weißen Pulli mit türkisfarbener Passe kam ich mir wie eine Verräterin vor, trug ich doch zur Schau, dass es mir sehr wohl auf das Äußere ankam.
Sandra, die Referentin, begann mit einem Vortrag zur Entwicklung der Stadt von den alten Griechen bis heute.
»In der Antike war die Stadt vorwiegend Tempelbezirk«, erklärte sie. »Die Menschen kamen dorthin, um Opfergaben für die Götter darzubieten.«
»Aber in Troja lebten doch auch normale Menschen«, raunte mir Liz zu. »Handwerker, Kaufleute und so.«
Tessa stieß mich in die Rippen. »Pst«.
»Ich hab doch gar nichts gesagt«, maulte ich.
»Geht es bei euch auch mal ohne Kabbelei?«, fragte Fabian. »Ich will was hören.«
»Ich denke, du weist schon alles«, frotzelte ich.
 Gemeinsam gingen wir zum Büchelparkhaus, keine fünf Minuten vom Elisenbrunnen entfernt. Es ist einer dieser hässlichen beige-grauen Betonbauten, das keine Erhabenheit, sondern Baufälligkeit ausstrahlt. Trotzdem wird es noch immer als Parkhaus genutzt, zumindest von den Verrückten, die sich mit ihren Autos in den Großstadttrubel wagen.
Für einen Moment sehnte ich mich in die Zeit der Pferdefuhrwerke zurück, bis mir einfiel, dass Pferdedung und liegengelassene Kadaver damals als genauso große Plage empfunden wurden, wie die Feinstaubbelastung heute.
Wir stiegen über die Feuerleiter ganz nach oben, wo nur wenige Autos standen.
»An dieser Stelle wollen wir mit euch darüber diskutieren, wem die Stadt eigentlich gehört«, sagte Sandra. »Dem Volk, der Verwaltung oder dem Kapital.«
Mit einem Ohr lauschte ich ihren Ausführungen über Großinvestoren, während ich mir mit einem Auge eine Kreideskizze auf dem Boden ansah. Darauf standen verschiedene Bauprojekte und die Bauträger. Zwei Namen dominierten. Bei diesen Herren handelte es sich um Großinvestoren, die die Stadt untereinander aufgeteilt hatten und in manchen Fällen auch gemeinsame Sache machten.
»Ein passendes Beispiel für die Gentrifizierung Aachens ist der Büchel«, erzählte Sandra, »ein altes gewachsenes Viertel mit kostengünstigem Wohnraum mitten in der Stadt, der neuen Häusern und weiteren unnötigen Einkaufsmöglichkeiten geopfert werden soll. Die hier ansässigen Bewohner können sich die teuren Mieten nicht leisten und werden so an den Rand der Stadt gedrängt, während die Innenstädte mehr und mehr von der wohlhabenden Mittelschicht bevölkert werden. Eine Vermischung der Klassen, wie wir sie noch kennengelernt haben, findet somit nicht mehr statt.«
Sandra ließ Bilder des neugeplanten Altstadtquartiers herumgehen. Der vielgelobte Entwurf sah ein Stadtviertel aus einem Guss vor. Ganz nett, aber meiner Meinung nach gab es viel zu viele dieser farblosen Einheitsviertel, während die gewachsenen Viertel mit ihren unterschiedlichen Baustilen nach und nach verschwanden. Ich bezweifelte auch, dass jemand ernsthaft sein Kind in die geplante Kita bringen würde, wenn es eine Straße weiter Bordelle und Table Dance Bars gab.
Dabei fiel mir ein, dass man vom obereren Stockwerk des Parkhauses einen ausgezeichneten Blick auf die Gärten der Antoniusstraße haben sollte. Eine Bekannte hatte sich einmal darüber beklagt, dass die Prostituierten sich in Rosengärten ausruhen könnten, während sie mit ihrem Kind noch nicht mal eine Wohnung mit Balkon besaß. Wo ich einmal hier war, konnte ich auch schnell einen Blick auf die Rosengärten werfen, denn es war unwahrscheinlich, dass ich noch einmal herkommen würde.
Ich stieg über eine niedrige Metallbrüstung und trat an die halbhohe Betonmauer. Von Rosengärten keine Spur, stattdessen sah ich betonierte Hinterhöfe mit Plastikstühlen. In einigen konnte ich ein paar Blumentöpfe erkennen, aber die Pflanzen darin waren schon vor langer Zeit vertrocknet.
Zwischen Hinterhöfen und Parkhaus befand sich ein Grünstreifen, der durch eine Backsteinmauer abgegrenzt wurde. Dort lag eine mit Steinen beschwerte Bauplane und darunter zeichnete sich etwas ab, das wie eine menschliche Silhouette aussah. Dieser Eindruck wurde noch erheblich verstärkt von den Schuhen, die darunter hervorlugten.
Ich winkte Fabian zu mir.
»Pennt da ein Freier seinen Rausch aus?«, fragte ich.
Fabian beugte sich weit über die Mauer.
»Unwahrscheinlich«, sagte er. »Denen zeigt man nur die hübschen Fassaden, nicht die hässliche Wirklichkeit.«
»Ein toter Freier, der seine Zeche nicht zahlen konnte?«
»Ich gehe mal gucken«, sagte er. »Lenk die Leute hier ab, sonst wimmelt es da unten gleich von Schaulustigen.«
Das schien mir etwas übertrieben angesichts des viel zitierten Desinteresses unserer Zeit. Andererseits taten einige Zeitgenossen alles für ihre fünfzehn Minuten Ruhm, die Andy Warhol jedem Menschen prophezeit hatte.
Ich zeigte auf die Kreidezeichnung mit den Bauprojekten.
»Was ist denn so schlimm daran, wenn zwei Großinvestoren die meisten Projekte finanzieren?«, fragte ich in der Gewissheit, damit den Zorn und die Aufmerksamkeit der Teilnehmenden auf meiner Seite zu haben.
»Findest du es gut, wenn die Stadt den kommunalen Wohnungsbau in die Hände des privaten Kapitals gibt?«, rief eine Teilnehmerin und schon entwickelte sich eine lebhafte Diskussion. Einige meinten, die Stadt solle Bauprojekte den Profis überlassen, andere sagten, sie nähme sich damit jede Planungshoheit.
Niemandem fiel auf, dass ich mich nicht beteiligte, sondern stattdessen das Geschehen unten auf dem Grünstreifen beobachtete. Dabei fiel mir weißer Staub auf, der auf der Brüstung lag. Er war heller als der Dreck daneben. War das wichtig? Ich machte ein Foto.
 Unten hob Fabian die Plane hoch und schüttelte den Menschen darunter erst vorsichtig, dann heftiger. Er stand auf und tippte etwas in sein Smartphone.
Meins vibrierte. Ein Toter. Schick Tessa runter, stand in seiner Nachricht.
Die Diskussion war immer noch in vollem Gang und Tessa natürlich mittendrin. Ich zwängte mich nach vorne und hielt ihr mein Smartphone unter die Nase. Zu meinem Erstaunen zuckte Tessa nur mit den Schultern und verließ ohne weitere Diskussion das Parkdeck.
»Was ist denn los?«, fragte Liz.
»Da unten liegt jemand«, sagte ich.
»Wirklich?« Liz wollte zur Beüstung laufen, aber ich hielt sie fest.
»Das soll vorerst niemand merken«, sagte ich. »Deshalb habe ich die Frage gestellt.«
»Ich habe mich schon gewundert«, erwiderte sie. »Wo du doch immer auf Seiten der Schwachen bist.«
»Wo ist denn Tessa hin?«, fragte Sandra.
»Musste mal«, antwortete ich.
»Dein Freund auch?«, fragte ein junger Mann. Er trug zu seiner schwarzen Löcherjeans einen Kapuzenpulli in einem farbenfrohen dunkelrot. Das Logo darauf, eine gereckte Faust, war wieder schwarz.
»Welche Station steht als Nächstes auf dem Programm?«, wechselte ich das Thema.
»Und Tessa?« Sandra schien unentschlossen.
»Die findet uns schon«, sagte Liz. »Sie kennt den Routenverlauf ja.«
»Also gut«, sagte Sandra. »Folgt mir zum Rathaus.«
Wir stiegen die Treppe runter und ich glaubte schon, niemand würde etwas bemerken. Aber Tessa machte mir wieder einmal einen Strich durch die Rechnung. Sie lehnte im Erdgeschoss an einer Brandschutztür und rauchte eine Zigarette.
»Ist da die Toilette?«, fragte eine Teilnehmerin. »Dann geh ich auch noch schnell.«
Sie wollte durch die Tür, aber Tessa verstellte ihr den Weg.
»Spinnst du?«, rief der Pulliträger. »Lass meine Freundin aufs Klo.«
»Hier ist kein Klo.« Tessa verschränkte die Arme und baute sich drohend auf.
»Lasst uns einfach weitergehen«, sagte ich, aber niemand hörte auf mich.
»Was soll das Tessa?«, fragte Sandra. »Wenn sie müssen, müssen sie.«
Tessa winkte sie heran und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
Sandra wurde blass. »Wir gehen weiter.«
»Erst wenn ich aufs Klo kann«, sagte die junge Frau.
Jetzt erschien auch Fabian in der Tür. Seufzend griff er in die Potasche seiner Jeans und zog seinen Polizeiausweis raus. »Hier geht’s nicht durch.«
»Ein Bulle?«, rief der Puliträger. »Willst du uns etwa ausspionieren?«
»Du nimmst dich etwas zu wichtig«, erwiderte Fabian.
Zwei Polizeiwagen erschienen mit Blaulicht und Martinshorn. Fabian erklärte den Beamten kurz, was geschehen war und sie machten sich sofort daran, die Tür mit einem rot-weißen Absperrband zu sichern.
»Machen Sie bitte Platz«, sagte einer der Beamten und drängte uns zur Seite.
»Können wir weitergehen?«, fragte ich Fabian.
»Kommt nicht in Frage«, rief eine Teilnehmerin. »Wir sind Zeugen eines Verbrechens geworden.«
Wenig später wimmelte es vor Polizeibeamten und Mitarbeitern der Spurensicherung. Fabian hielt sich am Rand des Geschehens, telefonierte oder sprach mit der Spurensicherung. Ein junger Beamter nahm unsere Zeugenaussagen auf, aber niemandem aus der Gruppe war etwas aufgefallen.
Drei junge Männer liefen über die Feuerleiter nach oben. Sie gehörten nicht zu unserer Gruppe, sondern hatten sich als Schaulustige eingefunden. Vermutlich hofften sie, von oben einen besseren Blick auf das Geschehen zu bekommen.
»Sie können da nicht hoch«, rief der Polizist ihnen hinterher, aber sie ignorierten ihn.
»Ich kümmere mich darum«, sagte Tessa.
Ehe der Beamte etwas unternehmen konnte, war sie schon hinter den Männern die Treppe hochgestiegen.
»Du machst keine Fotos«, hörte ich kurz darauf Tessa.  Einen Augenblick später fiel ein Smartphone runter und zerbrach auf dem Asphalt.
»Spinnst du?«, rief eine männliche Stimme. »Das war ein iPhone X.«
»Ist es immer noch«, sagte Tessa. »Aber jetzt als Puzzle.«
»Ich zeig dich an«, rief er.
»Das war Nothilfe«, erwiderte Tessa.
»Der da unten ist doch schon tot«, rief der Mann.
»Und wenn du nicht bald verschwindest, gesellst du dich dazu.«
Der Beamte wollte nach oben laufen, aber Fabian hielt ihn fest. »Bleiben Sie hier.«
»Aber ...«
»Sie würden auch nicht in einen laufenden Rasenmäher greifen.«
»Sie hat ihn bedroht«, sagte der Beamte.
»Diesen Handyfilmern sollte man viel öfter Prügel androhen«, entgegnete Fabian. »Aber wir dürfen das ja nicht.«
»Du verteidigst Tessa?« Ich konnte es nicht glauben.
»Verrate es aber nicht.«
»Wisst ihr schon was?«, fragte ich.
»Das ist kein Freier, der seinen Rausch ausschläft.«
»Ach nee.«
»Du weißt doch, dass ich nichts sagen darf.«
»Gar nichts?«, fragte ich. »Aber der Presse sagt ihr doch auch was.«
»Du gehörst aber nicht zur Presse«, erwiderte er. »Tut mir leid.« Er gab mir einen Kuss auf die Wange und wandte sich wieder dem Tatort zu.
Tessa kam die Feuerleiter herunter, gefolgt von den jungen Männern.
»Das iPhone ersetzt du mir«, rief einer.
»Wie käme ich dazu?«, fragte sie.
»Du hast es kaputt gemacht, du blöde Kuh.«
Tessa drehte sich so abrupt um, dass der Mann ein paar Schritte zurückwich.
»Habt ihr was gesehen?«, fragte sie mich und Liz.
»Wir waren hier unten«, antwortete Liz.
»Und hier gibt es nur Elektroschrott«, sagte ich.
»Das ist mein iPhone X«, rief der junge Mann.
»Du wiederholst dich«, erwiderte Liz. »Vielleicht hast du es selber runtergeschmissen.«
»Wieso sollte ich das tun?«
»Tolle Bilder?«, überlegte ich. »Ihr jungen Leute macht doch immer so komische Sachen, um Aufmerksamkeit in den sozialen Netzwerken zu kriegen.«
»Wovon du offensichtlich keine Ahnung hast«, schnauzte er mich an.
»Und du hast keine Ahnung, wie man sich benimmt«, zischte ich.
»Schluss jetzt«, ging der junge Beamte dazwischen. »Sie haben doch bestimmt eine Haftpflichtversicherung.«
»Was kostet so ein Teil?« Zu meinem Erstaunen zückte Tessa ein Scheckheft.
»Elfhundert hab ich bezahlt.«
Ohne weitere Diskussion füllte Tessa einen Scheck aus. »Und jetzt gib Ruhe.«
Der junge Mann sah erst Tessa, dann den Scheck ratlos an. Dann verließ er mit seinen Kumpels das Parkhaus.
»Ob der gedeckt ist?«, fragte Liz.
Ich bezweifelte es, machte mir aber keine weiteren Gedanken darüber. Stattdessen zog ich meine beiden Freundinnen in eine ruhige Ecke.
»Was hast du gesehen?«, fragte ich Tessa.
»Und warum hat Fabian dich runtergerufen?«, warf Liz ein.
»Um den Tatort vor Gaffern abzuschirmen«, erwiderte Tessa. »Unter der Plane lag ein junger Mann, vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt, nichtssagendes Äußeres. Er trug schwarze Turnschuhe, Jeans und ein T-Shirt. Darauf stand: Ich bin nur zum saufen hier. Er lag komisch verkrümmt da, hatte aber keine offensichtlichen Verletzungen.«
»Hatte er einen Ausweis dabei?«, fragte Liz.
»So nah kam ich nicht ran«, sagte Tessa. »Camillas Bulle hätte mich doch nicht gelassen, damit wir keine Spuren verwischen.«
»Das ist nicht viel«, sagte ich.
»Ich hab ein paar Fotos gemacht«, antwortete Tessa. »Die gleiche ich nachher über Social Media ab. Vielleicht finden wir so raus, wer das ist. Dürfte aber nicht einfach werden.«
»Der Tote hieß Felix Römer«, antwortete Liz. »Der Rechtsmediziner vermutet, er ist abgestürzt und an inneren Verletzungen gestorben.«
»Wieso erzählt Fabian dir was und mir nicht?«, fragte ich.
»Hat er nicht«, sagte Liz. »Ich habe die Ohren gespitzt, als der Rechtsmediziner mit jemandem von der KTU gesprochen hat.«
»Ein unauffälliges Äußeres hat eben auch seine Vorteile«, erwiderte Tessa und sah Liz dabei an.