Hen Gi

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Kein Mensch sollte so etwas erleben müssen! Hen Gi hatte in seinen jungen Jahren schon sehr viel erlebt. Es würde ausreichen, um mehrere Menschen in den Wahnsinn zu treiben. Er war gerade zwölf gewesen, als die Rebellen in sein Dorf kamen. Zwölf Jahre! In diesem Alter gingen die Jungen zur Schule und halfen auf den Reisfeldern mit.

 

Nie würde Hen Gi den Tag vergessen, an dem seine Kindheit endete. Des Nachts in seinen Träumen erlebte er ihn immer und immer wieder. Die Rebellen kamen in sein Dorf, lauter grimmige Männer mit Macheten und Gewehren bewaffnet. Unter ihnen waren auch Jungen in seinem Alter. Sie waren noch brutaler als die Erwachsenen. Es schien, als ob sie sich und allen anderen beweisen wollten, wie gute Kämpfer sie waren.

 

Die Rebellen trieben die Menschen auf dem Dorfplatz zusammen. Dabei wurden die jungen Männer und Frauen von den anderen getrennt. Bevor sie mit ihren Gefangenen das Dorf verließen, erschossen sie die übrigen Bewohner, die kleinen Kinder und die Alten. Auch sein Vater wurde erschossen. Er war noch nicht alt, aber er hinkte. Und Behinderte konnten die Rebellen nicht brauchen. Noch immer hört Hen Gi ihre Schreie, wenn er Nachts wach liegt.

 

Die Rebellen nahmen die Männer mit in ihr Lager, wo sie zu Soldaten ausgebildet wurden. Die jüngsten unter ihnen waren neun Jahre alt.

 

Die Frauen brachten sie woanders hin, auch seine beiden Schwestern. Er sah sie nie wieder, ahnte aber, welches Schicksal sie erlitten. Sie wurden zu Prostituierten in einem der vielen Bordelle. Nach einem Gefecht waren viele der Männer ganz wild darauf, sich eine Frau zu leisten. Dort feierten sie dann ihren Sieg oder einfach nur, dass sie noch lebten. Auch Hen Gi hatten sie einmal mit in ein Bordell genommen. Einer seiner Kameraden hatte ihm ein Mädchen zugeschoben, nicht älter als er selbst. Aber als er in ihre Augen sah, aus denen jede Lebendigkeit verschwunden war, hatte er das Gebäude sofort verlassen.

 

Auch seinen jüngeren Bruder Kan hatten sie damals mitgenommen. Er war tot, mit neun Jahren gefallen in einem dieser unzähligen Scharmützel.

 

Hen Gi hasste das Wort gefallen. Es klingt so leise, so harmlos. Jemand fällt! Dann steht er wieder auf und alles ist gut.

 

Kan war nicht wieder aufgestanden, und er war auch nicht gefallen. Er wurde aufgespießt von einem Bauern. Mit seiner Mistgabel hatte er Kan aufgespießt! Dann hatte er den verletzten Jungen erschlagen. Dieser erwachsene Mann hörte gar nicht mehr auf, auf seinen kleinen Bruder einzuschlagen.

 

Hen Gi hat die Leiche seines Bruders nicht gesehen. Seine Kameraden hielten ihn davon ab. Der Anblick war zu scheußlich! Aber Hen Gi wusste, wie sein toter Bruder aussah. Er hat schon viele verstümmelte oder verbrannte Leichen gesehen. Zu viele!

 

Töten oder getötet werden, das war jetzt seine Welt. Die glückliche Welt seiner Kindheit war so weit entfernt, so unendlich weit. Anfangs zählte Hen Gi noch seine Opfer, später nicht mehr. Irgendwann wird alles zur Routine, auch der Tod. Hen Gi fragte sich, ob er sich jemals ganz ans Töten gewöhnen könnte. Er hätte gerne die anderen gefragt, wie sie mit diesem ewigen Kreislauf aus töten und getötet werden zurecht kamen. Aber Soldaten sprechen nicht über ihr Innerstes. Jeder bleibt alleine mit seinen Ängsten, Albträumen und Erinnerungen. Auch die eigenen Toten waren nie ein Thema. Sie waren vergessen, sobald sie beerdigt waren.

 

Anfangs bekamen sie noch genug zu essen. Die Mahlzeiten bestanden meistens aus Reis. Aber seit einiger Zeit erbeuteten sie immer weniger Lebensmittel. Jetzt musste die Truppe oft hungern.

 

Vor einigen Tagen hatten er und einige Kameraden einen Zug mit Lebensmitteln überfallen, obwohl ihr Kommandant ihnen befohlen hatte, im Lager zu bleiben. Aber der Hunger war zu groß und die Gelegenheit war günstig und so widersetzten sie sich dem Befehl. Wenn er erst die Säcke mit dem vielen Reis sehen würde, würde er ihnen schon verzeihen, glaubten sie.

 

Als sie mit den Säcken ins Lager kamen, wurden sie freudig empfangen. Alle nahmen sich von dem Reis und waren für einen winzigen Augenblick glücklich.

 

Dann erschien ihr Kommandant. Sie hatten sich seinem Befehl verweigert und darauf stand die Todesstrafe. Ihre guten Absichten interessierten ihn nicht. Was noch an Reis übrig war, ließ er einsammeln und verbrennen.

 

Dann wurden sie alle festgenommen und vor ein Tribunal gestellt. Das Urteil stand von Anfang an fest, denn auf Befehlsverweigerung steht die Todesstrafe. Sie hatten gehofft, die Richter überzeugen zu können, aber die Gründe für ihr Handeln interessierten niemanden.

 

Hen Gi hatte gehofft, sie würden sofort vor das Exekutionskommando gestellt und es wäre schnell vorbei. Aber so leicht wollten sie es ihnen nicht machen.

 

Sie wurden zurück in ihr Gefängnis gebracht. Am nächsten Tag ließ der Kommandant sie antreten. Er lief an ihnen vorbei und sah sich alle genau an. Dann zeigte er auf einen von ihnen. Er musste sich hinknien, mit dem Gesicht zu seinen Kameraden. Dann wurde er mit einem Genickschuss hingerichtet. Die übrigen wurden wieder ins Gefängnis gebracht. Am nächsten Tag ließ er sie wieder antreten und alles wiederholte sich.

 

Heute ist der dritte Tag und Hen Gi fragt sich, wann er an der Reihe ist. Eben haben sie Pu Yi aus der Gruppe geholt. Pu Yi ist Hen Gis bester Freund. Sie kennen sich schon ihr ganzes Leben lang. Jetzt sieht er Hen Gi an.

 

Pu Yi hatte nicht an dem Überfall teilnehmen wollen, weil er nicht gegen den Befehl des Kommandanten verstoßen wollte. Hen Gi hatte ihn überredet. Er sagte, es werde ihnen schon nichts passieren. Immerhin werden sie mit vielen Reissäcken ins Lager kommen. Aber es kam ganz anders und jetzt würde Pu Yi wegen ihm hingerichtet werden. Sein Freund hat nie ein Wort darüber verloren.

 

Ihre Blicke begegnen sich. Es ist nur ein Augenblick, bevor der Schuss seinen Freund trifft. Aber diesen Blick wird Hen Gi nie vergessen.