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Formen des Lesens

Vor einiger Zeit las ich das Buch »Gewalt« von Steven Pinker. Er vertrat darin unter anderem die These, wir Menschen seien heute weniger gewalttätig, weil wir uns durch das Lesen besser in andere Menschen, Zeiten und Orte hineinversetzen könnten.
Es geht mir nicht darum, ob das stimmt oder nicht. Steven Pinker schrieb, bei Musterungen zum Ersten Weltkrieg habe man festgestellt, dass viele Männer in der Lage waren, einen Text zu lesen, aber den Inhalt verstanden sie nicht. Beispielsweise waren sie nicht in der Lage, einen leicht verständlichen Sachtext mit drei Sätzen zusammenzufassen.
Das hat mich stutzig gemacht, denn ich fragte mich, ob das nicht zusammengehöre und ob das nicht die Voraussetzung des Lesens sei. Ich dachte lange darüber nach. Was heißt Lesen denn überhaupt?
Zunächst einmal bedeutet es, dass man die Buchstaben kennt und sie zu Wörtern zusammensetzen kann. Aus mehreren Wörtern bilden sich Sätze, aus denen sich Absätze und ganze Texte bilden. Muss mit dem Erkennen der Buchstaben eine Sinnerkennung eines Textes einhergehen? Nein
Denn um zu lernen, einen Text zu verstehen, muss man nicht nur die Wörter entziffern, sondern auch über das Gelesene sprechen und nachdenken. Wichtig ist hierbei das Elternhaus. Sind Bücher vorhanden, lesen die Eltern ihren Kindern Geschichten, dann fördert das die Lesekompetenz der Kinder. Sie lernen spielerisch mit dem Medium Buch umzugehen und die Freude an gelesenen Geschichten.
Aber eine Einkaufsliste brauchen wir nicht zu interpretieren. Wir müssen lediglich wissen, was Milch, Eier und Käse bedeutet.
Die gemusterten Männer waren vermutlich Bauern, Fabrikarbeiter und Handwerker. Sie hatten einige Jahre die Volksschule besucht und da das nötigste gelernt. Die Interpretation von Bibeltexten oder Geschichten stand vermutlich nicht auf dem Lehrplan, weil diese Männer ohnehin nur wenig Zeit zum lesen hatten. Die Zeitung informierte kurz und bündig über das Nötigste und die Bibel wurde nicht interpretiert. Und mehr brauchten die meisten von ihnen nicht im Leben.
Sieht es heute anders aus?
Schätzungen zufolge können in Deutschland etwa 7,5 Millionen Erwachsene nicht oder nur wenig lesen. Auch von ihnen können viele vermutlich die Wörter entziffern, aber nicht den Sinn der Texte verstehen. Aber im Gegensatz zu den Männern aus Steven Pinkers Darstellung haben wir es immer wieder mit Texten zu tun, die wir verstehen müssen. Wir müssen die Paragraphen eines Vertrages verstehen können oder eine Bedienungsanleitung. In unserer technisierten Welt wird mehr gelesen denn je, und meistens handelt es sich dabei nicht um Einkaufslisten.
Dass viele der Analphabeten sich lange durchlavieren können, ist eine erstaunliche Leistung, die viel Geschick und Improvisation bedeutet. Aber das bedeutet auch, dass sie schnell vom modernen Leben ausgeschlossen sind.

 

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