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Die Erfindung der Schrift

Bei Instagram inszenieren Lesebegeisterte sich gerne als schöngeistige Menschen mit Sinn für Ästhetik: Vor einer Bücherwand steht ein Lesesessel, daneben ein kleines Tischchen mit einer Tasse Tee darauf, vielleicht liegt noch eine Tafel Schokolade daneben. Da schmökern sie dann in einem guten Krimi oder in einem Klassiker. Sie versinken in fremden Welten.
Wurde deshalb nicht die Schrift erfunden? Damit Menschen Romane, Gedichte und Lieder verfassen konnten? Oder dienten die ersten Schriften einem ganz anderen Zweck?
Richtig: Auf den ältesten erhaltenen Tontafeln stehen nicht etwa Bibeltexte oder das Gilgameschepos, sondern Auflistungen über Besitz und Steuerzahlungen. Welche Schrift die älteste ist, die Hieroglyphen der Ägypter, die Keilschrift der Sumerer oder eine ganz andere, ist immer noch nicht ganz geklärt. Aber all diese Schriften waren notwendig, damit die Reiche zu Großreichen aufsteigen konnten, denn das ist nur mit einer funktionierenden Verwaltung möglich und dazu benötigt es ein Schriftsystem. Der Historiker Yuval Noah Harari schrieb übrigens in seinem Bestseller Eine kurze Geschichte der Menschheit, viel wichtiger als die Erfindung der Schrift sei die Erfindung der Ablage gewesen. Denn alle Auflistungen nutzen nichts, wenn man nicht in der Lage ist, sie schnell wiederzufinden.
Dementsprechend waren die ersten Menschen, die lesen und schreiben konnten, Verwaltungsbeamte, Notare oder Logistiker. Schreiben war also eine Spezialfähigkeit für Angestellte oder Beamte, keine Grundfertigkeit für die gesamte Bevölkerung. Bis es so weit war, sollten noch sehr viele Jahrhunderte vergehen.
Die Griechen legten mehr Wert auf das geschriebene Wort, auch das literarische. Aber auch in dieser Kultur war Bildung nicht davon abhängig, ob man lesen konnte, sondern ob man sich einen Sklaven leisten konnte, der aufschrieb und vorlas. Erst im Hellenismus (ab ca. 326 vor. Chr.) begannen die Menschen, selbständig zu lesen, also die, die über genügend freie Zeit verfügten.

Kannten die Menschen keine Geschichten?

Joachim Fernau schrieb in seinem Buch Cäsar lässt grüßen, die ersten Römer hätten sich vermutlich abends am gemeinsamen Herdfeuer Steuererklärungen vorgelesen, da es aus dieser Frühzeit keine literarischen Texte gibt. Ich vermute eher, die Menschen erzählten sich Geschichten über Götter und Helden. Denn so wurden Mythen und Legenden bis in die Neuzeit hinein verbreitet, durch mündliche Überlieferung. Barden, Geschichtenerzähler oder Minnesänger zogen von Ort zu Ort und erzählten dort ihre Geschichten. Auch Nachrichten aus anderen Gegenden brachten sie mit. Für die Menschen damals war das kein Problem, sie kannten es nicht anders. Nur für die heutige Geschichtsforschung ist es dadurch sehr schwierig, sich in das Seelenleben der Menschen von damals einzufinden.
Natürlich wurde auch nach dem Ende der Römerzeit gelesen. Davon erzähle ich in einem anderen Blogartikel.

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