· 

Der Vampyr

Was haben Frankenstein von Mary Shelley und Der Vampyr von John William Polidori gemeinsam? Beide Klassiker entstanden zur gleichen Zeit am Genfer See.
Wir schreiben das Jahr 1816, das sogenannte Jahr ohne Sommer. Ein Jahr zuvor, im April 1815 war der Vulkan Tambora in Indonesien ausgebrochen, was im darauffolgenden Sommer zu schweren Unwettern, Überschwemmungen, niedrigen Temperaturen und Ernteausfällen in Mitteleuropa führte.
Mary Shelley, ihr Mann Percy Bysshe Shelley, John William Polidori und Lord Byron verbrachten ihren Sommerurlaub am Genfer See und beschlossen, einen Dichterwettstreit zu veranstalten. Während die Geschichten von Percy Shelley und Lord Byron nie vollendet wurden, gelangten die anderen beiden Geschichten zu Weltruhm.
Der historische Vampir, der in den Ländern Südosteuropas über viele Jahrhunderte von den Menschen gefürchtet wurde, war eine eher unattraktive Gestalt, die eher einem Zombie oder Murnaus Nosferatu ähnelte.
John William Polidori schuf dagegen mit seiner Geschichte den literarischen Vampir, den wir alle kennen und mögen: Den charismatischen Gentleman, der seine Opfer nicht zu Tode ängstigt, sondern in seinen Bann zieht. Die bekanntesten Vertreter dieses Genres sind vermutlich Dracula, Lestat de Lioncourt und Edward Cullen.
Zum Inhalt: Der junge Aubrey lernt auf einer Londoner Gesellschaft Lord Ruthven kennen, einen Gentleman mit perfekten Manieren. Sie reisen zusammen nach Rom. Von dort setzt Aubrey seine Reise alleine fort, unter anderem, weil er einen Brief von zu Hause erhält, in dem er vom schlechten Ruf Ruthvens und einigen Eskapaden unterrichtet wird, die der Lord sich in der Londoner Gesellschaft leistete. Auch in Rom macht Ruthven sich daran, die Tochter eines gemeinsamen Bekannten zu verführen. Aubrey glaubt, das verhindern zu können, erfährt aber bald darauf, dass sie unter merkwürdigen Umständen spurlos verschwunden ist.
In Griechenland lernt Aubrey Ianthe kennen. Die junge Frau erzählt ihm Vampirgeschichten, an die sie selbst glaubt, aber Aubrey, der aufgeklärte Engländer, belächelt sie nur. Sie warnt ihn, dass vor allem die Zweifler schnell eines besseren belehrt würden. Kurz darauf wird sie von einem Vampir getötet, Lord Ruthven, wie wir annehmen dürfen. Aubrey verfällt darauf in tiefe Lethargie, aus der ihn Lord Ruthven wieder herausreißt, der auch nach Griechenland kommt. Bei einem Spaziergang werden sie von Banditen überfallen, die Lord Ruthven tödlich verwunden. Bevor er stirbt, bittet er Aubrey, innerhalb von Jahr und Tag niemandem etwas über ihn, seinen Tod und ihre Bekanntschaft zu erzählen. Aubrey legt die Leiche Lord Ruthvens ins Mondlicht. Am nächsten Tag fehlt von ihr jede Spur.
Als er wieder in England ist, erzählt seine Schwester ihm glücklich, sie werde demnächst den Earl of Marsden heiraten. Entsetzt muss Aubrey feststellen, dass Earl Marsden niemand anderes als Lord Ruthven ist. Aber niemand scheint ihn mehr zu erkennen, obwohl er für viel Gerede gesorgt hatte. Aubrey will die Hochzeit verhindern, wird aber von Ruthven an seinen Schwur erinnert. Wieder erleidet Aubrey einen Nervenzusammenbruch und wird für unzurechnungsfähig erklärt.
Seine Schwester und Marsden sollen an dem Tag getraut werden, an dem das Jahr seines Schwurs endet. Deshalb versucht Aubrey in letzter Minute, seine Schwester mit einem Brief zu warnen, aber der erreicht sie nicht rechtzeitig. So wird auch seine Schwester ein Opfer des Vampirs. Auch Aubrey stirbt. 


Ich habe Frankenstein und Der Vampyr kurz hintereinander gelesen. Dabei fielen mir ein paar Parallelen auf:
Die Protagonisten Victor Frankenstein und Aubrey wirken angesichts des Bösen, Frankensteins Schöpfung und Lord Ruthven, schnell überfordert. Anstatt sich der Bedrohung zu stellen, legen sie sich erst einmal mit einem Nervenfieber ins Bett und bleiben untätig.
Beide verheimlichen ihr Wissen über die Antagonisten und tragen so zur Eskalation der Entwicklung bei. Victor Frankenstein erwähnt nicht, dass seine Schöpfung seinen Bruder tötete. Damit lässt er zu, dass Justine zu Unrecht hingerichtet wird. Aubrey schweigt aufgrund seines Eides und liefert damit seine eigene Schwester Lord Ruthven aus.
Im Grunde sind beide – Frankenstein und Aubrey - Antihelden. Sie versagen angesichts der großen Aufgabe, vor die das Schicksal, bzw. Autorin und Autor, sie stellen.  Warum das so ist, liegt wohl in den literarischen Vorlieben der damaligen Zeit begründet. Darüber werde ich mir in einem anderen Artikel Gedanken machen.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0